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David King »Roter Stern über Russland«

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Eine visuelle Geschichte der Sowjetunion, 1917 – 1953

David Kings Bildband Roter Stern über Russland, auf deutsch erschienen im vergangenen Jahr im Essener Mehring-Verlag, versammelt visuelle Zeugnisse der Geschichte der Oktoberrevolution und der Sowjetunion bis zum Tode Stalins 1953. Der Autor gruppiert, weitgehend chronologisch, teils thematisch sortierend, Plakate, Fotografien, Postkarten, Zeitungen und Zeitschriften und Bucheinbände der Zeit (insgesamt rund 550 Abbildungen) und versieht sie mit knappen Kommentaren. So entsteht eine Art Geschichte der Sowjetunion im Bild, die sich im Kern an der überkommenen Kette der politischen und wirtschaftlichen Ereignisse orientiert und um größere Ausflüge in das Feld der Kunst‑ und Kulturgeschichte erweitert wird. In grosso modo folgt King dabei dem Narrativ der verratenen Revolution mit Stalin als ihrem Totengräber (S. 290). Neben Lenin erfährt besonders die in der Sowjetunion verfemte Figur Trotzkis einige Aufmerksamkeit und ich lehne mich, glaube ich, nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich sage, die beiden werden vom Autor, bei aller Schwere und Bitterkeit der Ereignisse die mit ihrem Wirken auch verknüpft sind, mit einer gewissen Anteilnahme gezeichnet.

Auf Februar‑ und Oktoberevolution folgen der Bürgerkrieg, die Hungerkatastrophe, die Gründung der UdSSR, die Kollektivierung der Landwirtschaft, die Industrialisierung, die Neue ökonomische Politik (NEP), der »Aufbau des Sozialismus in einem Land« und der erste 5-Jahresplan, die Zwangsarbeitslager, die Moskauer Schauprozesse 1937/38, der Hitler-Stalin-Pakt und schließlich der Große Vaterländische Krieg, der mit dem verlustreichen Sieg über die deutschen Invasoren endet.

Auf die Härte der Bolschewiki gegen ihre Gegner (die »Weißen«) und Konkurrenten in Revolution und Bürgerkrieg folgen bald die »Säuberung« und die weitere autoritäre Durchdringung der Gruppe der Revolutionäre selbst. Opposition innerhalb der Partei wird nach und nach ausgeschaltet. Auf Lenin, über den man vieles sagen könnte, folgt Stalin, der bekanntlich ein ausgemachter Verbrecher war. Trotzki, der bei der Schaffung der Roten Armee im Bürgerkrieg Entscheidendes geleistet hat, wird aus der KPdSU ausgeschlossen und muss ins Exil. 1940 wird er in Mexiko von einem stalinistischen Agenten ermordet. Die Stalinisten betreiben die völlige Entrechtung der Sowjetbürger und schaffen ein monströses System der Zwangsarbeit, das unzählige Menschenleben fordert. Vor der Brutalität und dem Wahn der obersten politischen Führung ist auch die politische Klasse nicht sicher. Es scheint, als habe kaum ein prominenter Bolschewik, der im Oktober 1917 mit von der Partie war, die 1930er Jahre überlebt. Trotz alledem treffen die Deutschen auf erbitterten Widerstand und scheitern, als sie, im Sommer 1941, das Land überfallen, um »Lebensraum« zu erobern und die vorhandene Bevölkerung zu versklaven oder gleich umzubringen, letzteres insbesondere, wenn es sich um Juden handelt. Am 5. März 1953 stirbt Stalin an den Folgen eines Herzinfarkts und ein neuer Abschnitt der Geschichte der UdSSR beginnt.

Kings Bildmaterial, das seiner umfangreichen Privatsammlung entstammt und, nebenbei bemerkt, ausgesprochen gut reproduziert ist, spiegelt bzw. kommentiert diese und weitere Ereignisse in atemberaubender Weise. Um nur Weniges zu nennen: Neben anonymen revolutionären Soldaten des Jahres 1917, die auf Gruppenbildern mit gezückten Säbeln und angelegten Gewehren posieren, finden sich Porträts bekannter Bolschewiken, so etwa der von Moisei Nappelbaum fotografierte Lenin, Plakate von Gustav Klucis, Dimitri Moor, Wladimir Majakowski, El Lissitzky und vielen anderen, Zeitschriftentitel, Dokumentarfotografien und einige der berühmten Kriegsfotografien von Jewgeni Chaldei, Max Alpert, Iwan Schagin und Dimitri Baltermans und anderen.

Gerade aus dem Umstand, dass es sich in weiten Teilen um das Werk eines Einzelnen und also die Präsentation einer individuellen Sammlung handelt, resultiert meines Erachtens eine Schwierigkeit des Buches. Denn wie groß eine solche Sammlung auch sein mag, sie ist ja nie identisch mit dem, was es alles gibt und gab, sie bleibt immer unvollständig und ausgewählt. Man tut gut daran, die Sammlung immer als etwas Begrenztes, das heißt auch, als etwas begrenzt aussagekräftiges zu behandeln. Kings Buch will aber ja etwas anderes, und mehr sein als eine Blick in seine Wunderkammer, und ist es auch – eine »visuelle Geschichte der Sowjetunion im Zeitraffer«, wie es in der Einleitung heißt (S.13). Dieser Anspruch fordert eine wohlverstandene kritische Distanz zum Gegenstand, worunter ich bitte keine pflichtschuldige Rundumverteufelung des Kommunismus in allen denkbaren Erscheinungsformen verstehe, sondern einen geschulten Blick für das Wesentliche und eine nachvollziehbare Reduktion, Einordnung und Gewichtung der Bestandteile einer Sache. Die lässt das Buch aber, zumindest in meinen Begriffen, stellenweise vermissen.1

Das betrifft einerseits manche politischen und sozialen Aspekte in Kings Repräsentation der Geschichte der Oktoberrevolution und der Sowjetunion selbst, sowie deren Verhältnis zu den kultur‑ und kunstgeschichtlichen Zeugnissen, die mir teils etwas willkürlich ausgewählt erscheinen. Um ein Beispiel zu geben: Ich halte es für inhaltlich nicht sehr ausgewogen oder gerechtfertigt, wenn auf die Niederschlagung des Kronstädter Matrosenaufstands durch die Rote Armee gerade einmal ein kleiner Absatz (und kein Bild) verwendet wird (S.113), während an anderer Stelle der Fall Clare Sheridans (S.124f), einer Nichte Churchills, die Skulpturen bekannter Bolschewiki anfertigte und so zum schwarzen Schaf ihrer Familie wurde, eine ganze illustrierte Doppelseite erhält. Über vier Seiten werden Textildruckentwürfe Nikolai Prachows gezeigt (S.242–245). Mode, Schmuck, Malerei, Architektur und Architekturfotografie spielen aber im restlichen Buch eine ziemlich untergeordnete Rolle, und man weiß nicht recht warum, oder kann es doch nur vermuten. Wohl kann kein Buch alles Gewünschte enthalten. Aber eine Geschichte der Oktoberrevolution und der Sowjetunion »im Bild« ohne Tatlins Turm der III. Internationale (1919) ist, da beißt die Maus keinen Faden ab, nicht ganz vollständig. Gerade zu kunstgeschichtlichen Themen der sowjetischen Geschichte – seien das nun Skulpturen und Malerei der Avantgarde und des Sozialistischen Realismus oder Kunsthandwerk (Textildesign, Porzellan) existieren Veröffentlichungen, die diese Spezialgebiete systematisch erschließen und an die zu halten sich wohl eher lohnt.2

Zu den stärksten Abschnitten des Buches zählen, neben den Plakaten und Fotos aus Revolution und Bürgerkrieg, die Häftlingsfotografien von Angeklagten der Schauprozesse (S.264–275) und anderer Opfer des Stalinismus. Zu sehen sind auch das berüchtigte Lubjanka-Gefängnis in Moskau und die Zwangsarbeiter am Weißmeer-Ostsee-Kanal. Bilder wie das von Trotzkis Leichnam auf dem Weg zur Einäscherung oder das vom toten Dichter Wladimir Majakowskij auf dem Sofa stehen in einem eigenartigen Kontrast, sowohl zum einbalsamierten Lenin in seinem Mausoleum, als auch zu dem zwischen überbordenden Blumengebinden aufgebahrten Stalin, eines der wenigen Farbfotos des Buches.

Dankbar war ich für den Hinweis auf den Schriftsteller Isaak Babel (S.104f), von dem ich bislang noch gar nichts gehört oder gelesen hatte. Es wird eine Schilderung Babels über die Pogrome und das Leben der Juden in der Zeit des Bürgerkrieges wiedergegeben. Babel wurde bekannt vor allem mit einem Bericht über die roten Kosaken (Die Reiterarmee, 1926). Er wurde unter dem Vorwurf der Spionage verhaftet, 1940 im Gefängnis ermordet und 1954 rehabilitiert. Etwas kurz kommt Wassili Grossman (S.317), der im 2. Weltkrieg Reporter bei einer Zeitung der Roten Armee und einer der ersten Chronisten des Holocaust war. Sein Epos Leben und Schicksal (1959) durfte in der UdSSR nicht erscheinen. Vermisst habe ich schließlich auch Ilja Ehrenburg, den wohl in Deutschland meistgehassten Sowjetschriftsteller.

David Kings Roter Stern über Russland sei allen ans Herz gelegt, die sich mit der Geschichte und der visuellen Kultur der Oktoberrevolution und der Sowjetunion bis 1953 beschäftigen wollen. Dem Buch ist ein großes und kritisches Publikum zu wünschen.

David King: Roter Stern über Russland, Eine visuelle Geschichte der Sowjetunion, 1917 – 1953, Mehring Verlag Essen 2010, ca. 350 S., ca. 550 Abb., 39,90 Euro.

Anmerkungen

  1. Es schmeckt etwas nach eitler und undurchdachter Verallgemeinerung, wenn King in seiner Einleitung zur Begründung der zeitlichen Eingrenzung des Bandes (und seines Sammelgebietes) auf die Jahre 1917 bis 1953 schreibt: »Die darauf [auf den Tod Stalins, Anm. d. Verf.] folgende ’Phase der Stagnation’ unter Leonid Breschnew war in politischer Hinsicht, wie auch für die visuelle Kunst öde und unergiebig, weshalb sie hier nicht behandelt wird.« (S. 13.) Erstens war die sowjetische Geschichte und Kunst nach Stalins Tod sehr wohl ergiebig, sie brachte nur nicht die Ergebnisse, die manche sich von ihr erhofft haben mögen. Zweitens ist die Behauptung, Politik und visuelle Kultur der UdSSR nach Stalin seien öde gewesen, auf eine leicht aberwitzige Weise geschmäcklerisch. Wollte man über Geschmack streiten, wäre es überdies ein leichtes, Gegenbeweise zu finden.
  2. Siehe z. B. Wolter, Bettina-Martine u. Schwenk, Bernhart (Hg.), Die Große Utopie, Die russische Avantgarde 1915 – 1932, Frankfurt/Main 1992.

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