Wassili Grossman und die Rote Armee 1941–1945
Die grossen Züge politischer und historischer Ereignisse sind zumeist allgemein bekannt. In diesem Fall allemal: 22. Juni 1941 überfiel Nazi-Deutschland die Sowjetunion; am 8./9. Mai 1945 trat die bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reiches in Kraft. Aber gegenüber den auch von der stalinistischen Propaganda produzierten Bildern der siegreichen Armee dringt der mikrologische Blick tiefer ins gesellschaftliche Geflecht der sowjetischen Gesellschaft im Krieg. Durch den 1905 geborenen Schriftsteller Wassili Grossman, der vier Jahre lang als Kriegsreporter unter den Soldaten der Roten Armee war, können wir einen Blick ins Innere erheischen.
Grossman während des Krieges gegen die Deutschen als einer der wenigen Reporter die längste Zeit des Krieges unter den Soldaten der Roten Armee an der Front. Er schrieb für die Armee-Zeitung »Krasnaja Swesda« kurze Reportagen und Skizzen des alltäglichen – gefährlichen und entbehrungsreichen – Lebens der Soldaten; dafür gewann er ihren Respekt und die »Krasnaja Swesda« eine breite Leserschaft. Basis für die Artikel waren seine Aufzeichnungen in Grossmans Kriegstagebüchern. Diese hat Anthony Beevor nun mit Unterstützung von Luba Vinogradova herausgegeben und mit einem umfangreichen Kommentar versehen. Allein dass Grossmann diese Tagebücher verfasst hat ist eine Leistung, denn es war nicht ungefährlich unter den vermeintlich wachsamen Augen des NKWD das Kriegsgeschehen mit wenig stalinistischem Pathos und umsomehr Treue zur Wahrheit und zum abweichenden Detail festzuhalten.
Grossmans Weg durch den Krieg folgt den Siegen und Niederlagen der Roten Armee. Seine Aufzeichnungen aus Wassili Grossmans Kriegstagebüchern ähneln einem Lindwurm, der chronologisch fortschreitet und den Leser mitnimmt. Da man das Ende aber kennt, den 8. Mai 1945, ist es zugleich als ob die vorwärts kriechende Chronologie das Ereignis der deutschen Kapitulation gleichsam rückwärts gerichtet aufschlüsselt. In einer dem chronologischen Ablauf entgegen gesetzten Bewegung wird der Weg eröffnet, den die Rote Armee von den bis auf Äußerste angespannten Fronten vor Moskau und vor allem Stalingrad nahmen, um ins Herz der – es sei erlaubt – faschistischen Bestie vorzudringen.
Eine durchgängige Hoffnung der Soldaten – und auch eine unterschwellige Grossmans, der Freunde und Verwandte ins Gulag gehen sah (und sich für sie einsetzte) – war, dass mit dem Sieg über die Deutschen sich auch der Charakter der bolschewistischen Herrschaft ändern würde, dass die Repression gelindert und Geheimpolizei und Arbeitslager aufgelöst werden würden. Denn die ganze sowjetische Nation habe sich im Kampf gegen den Nationalsozialismus bewährt. Und dennoch fokussiert Grossman den Einzelnen inmitten einer Armee, in der bedenkenlos Massen von Sodaten in den Tod geschickt werden.
Ein bestimmendes Leitmotiv ist das dumpfe Wissen des Todes seiner Mutter, die nach der Trennung vom Vater und dem Wegzug Grossmans nach Moskau im ukrainischen Berditschew blieb. Sie wurde in den grossen Massakern der Einsatzgruppe C mit allen anderen Juden der Stadt ermordet. Grossman verspürt das Wissen, dass sie, als die Rote Armee sich 1941 zurückziehen muss und der Kontakt abbricht, nicht mehr wiedersehen wird. Als er 1944 auf dem siegreichen Vormarsch in die Ukraine gelangt, fährt er ins befreite Berditschew. Grossman schreibt seiner Frau: »Meine Genossen waren schon dort [in Berditschew]. Sie sagen, die Stadt sei vollkommen leer, nur einzelne Menschen seien noch am Leben, vielleicht ein Dutzend von zehntausenden Juden, die hier gelebt haben. Ich habe keine Hoffnung mehr, Mama lebend zu finden. Ich möchte nur noch wissen, wie sie ihre letzten Tage verbracht hat und wie sie gestorben ist… Ich habe plötzlich begriffen, wie teuer diese wenigen Überlebenden einander sein müssen.« (316)
Seine Artikel über die Vernichtung der Juden werden zensiert – partikulares Schicksal wird im stalinistischen Kollektivismus kein Platz gegeben. Der Tod der Mutter läßt Grossman zeitlebens nicht los; er schreibt ihr zehn und zwanzig Jahre nach ihrem Tod, ergreifende Briefe, die seine Liebe zu ihr beteuern und ihren Tod beklagen. Er setzt ihr in der Figur der »Anna Strum« ein literarisches Denkmal in seinem über lange Umwege sechzehn Jahre nach Grossmans Tod, 1980, erstmals publizierte Epos »Leben und Schicksal«.
Diesem Roman, der von den russischen Sicherheitsbehörden beschlagnahmt wurde und wie eine streng geheime Drucksache aus der späten Sowjetunion geschmuggelt wurde, liegen ebenfalls über weite Strecken die Kriegstagebücher zugrunde.
An der Art und Weise wie die sowjetischen Behörden ihre Kriegsberichterstatter einsetzten ist der verdrückte Antisemitismus des Regimes abzulesen, während zugleich zehntausende jüdische Rotarmisten für die Sowjetunion kämpfen und sterben: Nicht der nonkonformistische Jude Grossman darf über dem im Sommer 1944 entdeckten und befreite Vernichtungslager Majdanek berichten, sondern sein linientreuer Konkurrent Konstantin Simonow. Dieser vermied es tunlichst die Herkunft der Opfer zu erwähnen. Den Tod fanden nach seiner Darstellung einfach Sowjetbürger. Grossman wurde erlaubt, das ebenfalls befreite Lager Treblinka aufzusuchen. Der Schrecken wird von ihm en detail erfasst; seine Schilderungen des Sterbens und des Leidensweges der wenigen Überlebenden dienten als Beweisstücke der Anklage im Nürnberger Militärtribunals. Grossman selbst hielt dem Grauen nicht stand. Im August nach Moskau zurückgekehrt, erlitt er einen Nervenzusammenbruch.
Grossmann wurde ein Jahr zuvor, im Sommer 1943, auf Ilja Ehrenburgs Bemühen hin Mitglied des Jüdischen Antifaschistischen Komitees (JAK) und auch Redakteur der zum »Schwarzbuch« zusammengefassten Berichte über die Greueltaten der Deutschen gegen die Juden. Das Buch ist nie in der Sowjetunion erschienen, das JAK wurde nach dem Sieg über Nazideutschland zwangsweise aufgelöst und die leitenden Mitglieder – unter anderen auch Shlomo Micho‘els und Itzik Feffer – ermordet oder kamen unter ungeklärten Umständen ums Leben. Grossmann und Ehrenburg blieben aufgrund ihrer enormen Popularität verschont.
Mit jedem Landgewinn der Roten Armee sammelt Grossman mehr und mehr Schreckensberichte über die Shoah. Parallel bewegt er, der kurzsichtige und etwas dickliche städtische Intellektuelle, wie ein ausgebildeter Militär unter den Soldaten, deren Einsatz Grossman in seinen Artikeln stets lobt. Er gewann früh die Erkenntnis, dass die Juden Europas westlich der sowjetischen Front komplett ermordet wurden: »Überall [in den befreiten Städten und Dörfern] Schweigen. Totenstille. Ein ganzes Volk ist brutal ermordet worden.« (312)
Was die Berichte auszeichnet ist ihre Schonungslosigkeit. Weder verschweigt Grossman die Konkurrenz und die Eifersüchteleien in der Roten Armee, noch die zynischen Momente – Todesurteile gegen Rotarmisten, die sich selbst verstümmelt haben sollen, wurden vom Kommandeur beim Tee unterzeichnet –, noch beschönigt er die Gewalt, mit der die Rote Armee Deutschland einnahm: Plünderung, Vergewaltigung, Rache – alles in einem sonderlich hübschen und aufgeräumten Deutschland. Es gab auch paradoxe Situationen: »Ein Kommandeur der Roten Armee, Jude, dessen Familie die Deutschen bis auf ihn umgebracht haben, ist in der Wohnung eines flüchtigen Gestapo-Mannes einquartiert. Solange er da ist, geschieht Frauen und Mädchen nichts. Als er wegfährt, fleht ihn die ganze Familie an zu bleiben.« (401)
Grossman ist mit den Rotarmisten als sie Berlin erobern. Sichtlich bewegt erlebt er den ambivalenten Siegestaumel: »In Deutschland, besonders in Berlin, kamen unsere Soldaten ins Grübeln, weshalb die Deutschen uns so plötzlich überfallen haben. Wozu brauchten sie diesen entsetzlichen, ungerechten Krieg? Millionen unserer Männer haben die reichen Bauernhöfe in Ostpreußen, die hochorganisierte Landwirtschaft, die Kuhställe aus Beton, die großen Zimmer, die Teppiche und die Schränke voller Kleider gesehen. Millionen unserer Soldaten haben die guten Strassen zwischen den Dörfern, die deutschen Chausseen erlebt. … Sie haben die doppelstöckigen Häuser in den Vororten mit Strom und Gas, mit Bad und wunderbar gepflegten Gärten gesehen. Sie haben die Villen der Berliner Bourgeosie, den unglaublichen Luxus der Schlösser, Gutshäuser und Herrensitze erblickt. Und tausende Soldaten schauen sich um und wiederholen die zornige Frage: ‘Warum sind sie in unser Land gekommen? Was wollten sie bei uns?‘« Als Grossman nach Moskau zurückkehrt ereilt ihn ein wiederholter Nervenzusammenbruch und es dauerte längere Zeit, bis er sich erholte und dem Andenken der vielen ungeehrten Helden der Sowjetunion ein literarisches Denkmal setzen konnte. Andere zu bedenken war aufgrund des stalinistischen Antisemitismus nicht möglich.
Die Lektüre des Buches eröffnet eine dem im postnazistischen Westen aufgewachsenen Leser einen nahen Eindruck von den Leistungen der Roten Armee gegen den Hitler-Faschismus und den Erfahrungen der Soldaten aus allen Teilen der Sowjetunion. Grossman gelingt es die Bruchlinien und Spannungen ebenso aufzuzeichnen wie ein Portrait der sowjetischen Gesellschaft zu geben. Die sorgfältige Edition leistet eine gute Einbettung der Artikel Grossmans. Eine herausragende Leseempfehlung.
Anthony Beevor (Hrsg.) in Zusammenarbeit mit Luba Vinogradova: Ein Schriftsteller im Krieg. Wassili Grossman und die Rote Armee 1941–1945, C. Bertelsmann Verlag, 2007, geb., Schutzumschlag, 43 s/w-Fotos, 4 Karten im Text, Karte im Vor‑ und Nachsatz, 480 S., 24,95 €